Widerstehe der Werbetrommel!

Quelle: Clay Shirky's Internet Writings. Original: "Don't believe the hype". Clay Shirky ist Unternehmensberater in New York.

Eine meiner Aufgaben als Geschäftsführer einer New Yorker Medienagentur war es, neue Techniken zu bewerten. Neue Browser, neue Programme, neue Geschäftsmodelle. Ich hatte zu prüfen, ob wir in näherer Zukunft Kapazitäten da reinstecken sollten. Das Schöne an dieser Aufgabe waren reichlich gratis-T-Shirts. Das Unangenehme war die Pflichtlektüre der Pressemitteilungen. Was genau wurde denn da angeboten?

Unsere Firma hat ein absolut einzigartiges originales und proprietäres Produkt, das das Netz, wie wir es kennen, grundlich verändern wird. Wer dieses Produkt nicht einsetzt, den wirft es zurück in die dunkle Pionierzeit des Netzes, und die Aktonäre werden ihn zerlegen. Unser Produkt "Net:Web-Matrix@Thing", dass in irgendeinem Quartal des nächsten Jahres das Beta-Stadium verlassen wird, wird...

Die steigende Zahl solcher Musterbeispiele an Klarheit auf meinem Schreibtisch zeigte mir, dass ich meine gesamte Arbeitszeit mit der Prüfung neuer Produkte verbringen könne. Und dann müsste ich immer noch raten. Hoffentlich gut raten. Ich brauchte ein Regelwerk, um die Spreu vom Weizen trennen zu können. Ich musste die Prinzipien beachten, nach denen Nutzer von Netzwerken wirklich verfahren, anstatt darauf zu achten, was sie nach Ansicht der Marketing-Experten gefälligst zu tun hätten.

Regel Nr. 1: Glaube nie der Werbetrommel!

Man könnte es auch "Alles war schon mal da" nennen. Das Netz, wie wir es kennen und lieben, ist Jahrzehnte alt. Die Forschung, durch die das Netz erst möglich wurde, ist deutlich älter. Trotz des Kultes um die hektischen Neuerungen in und rund um das Netz sind die Mechanismen, die Änderungen verursachen können, sehr langsam. Nur die Bediener-Oberflächen verändern sich schnell.

Das Netz zu verändern, ist ein sehr schwieriges Geschäft. Ereignisse, die alles nachfolgende umkrempeln (laut Thomas Kuhn ein "Paradigmenwechsel"), sind selten. Die Erfindung des DARPANet war ein solcher Paradigmenwechsel. Oder die Entwicklung von TCP/IP. Der NCSA-Browser "Mosaic" könnte sich noch als Paradigmenwechsel herausstellen. Die Einführung einer neuen Browserversion für den Mac ist kein Paradigmenwechsel, egal, wieviele T-Shirts deswegen verteilt werden.

Bisher gibt nur zwei "grosse Würfe" im Netz: Die Benutzung eines Browsers als Schnittstelle zum Netz, und der Einsatz von verteilten, Objekt-orientierten Programmen auf virtuellen Rechnern. Alles andere sind Details, entweder an eins dieser beiden Konzepte angelehnt (Die hochgelobte "Aktive Oberfläche" ist nichts als ein Browser, der auch die lokale Festplatte anzeigt) oder alter Wein in neuen Schläuchen (der "Netzwerk-Computer" ist Suns zehn Jahre alte "diskless workstation"). Wir werden die nächsten Jahre damit verbringen, die zwei "grossen Würfe" zu verfeinern. Alles andere, unabhängig von den volltönenden Presseerklärungen, ist Verputz.

Regel Nr. 2: Glaube dem "Würde ich sowas benutzen?"-Test!

Beim Blick auf neue Techniken frage Dich nicht "Wird das auf meinem Server laufen?", sondern "Würde ich sowas benutzen?".

Einmal sah ich eine Demo-Version eines Produktes, das Leser durch das Netz begleiten sollte. Passende Werbung, die natürlich Platz auf dem Bildschirm brauchte, wurde eingeblendet. Der Verkäufer sah aus, als hätte er Schmerzen, als er erklärte, bei nur 2 Cent pro Werbeeinblendung kämen 20 Euro pro Tausend Einblendungen zusammen. Das erschien mir passend zu dem, was ich über Multiplikation weiss. Mich interessierte viel mehr, warum er glaubte, dass die Menschen diese Einmischung auf ihrem Schirm dulden würden. Er kam irgendwie nicht dazu, diesen Teil zu erklären. Direkt danach zu fragen, erschien mir unhöflich.

Wir wissen doch genau, was die Nutzer des Netzes wollen: Dasselbe wie jetzt, nur billiger, oder schneller, oder beides. Sie wollen interessantere Sachen als jetzt, zum gleichen Preis wie jetzt. Sie bevorzugen offene Systeme gegenüber geschlossenen. Sie bevorzugen offene Standards anstatt proprietären. Sie werden Werbung erdulden, wenn es der Preis für interessante Sachen ist. Sie wollen spielen oder andere Menschen sehen, die möglichst oft möglichst wenig bekleidet sind. Sie wollen Nachrichten lesen, Sportereignisse verfolgen, oder sich über das Wetter ärgern. Und das Wichtigste: Sie wollen mit anderen Menschen kommunizieren.

Vorsicht vor Produkten, die behaupten, Menschen würden Information der Kommunikation vorziehen! Vorsicht vor Diensten, die behaupten, Menschen fänden geschlossene Systeme besser als offene! Vorsicht vor Protokollen, die meinen, Menschen nähmen Inkompatibilität als Preis für neue Funktionen in Kauf! Jeder Versuch eines Services im Netz, der nicht die grundlegenden Bedürfnisse der Nutzer befriedigt, ist zum Scheitern verurteilt.

Regel Nr. 3: Vermische nicht Deine Motive mit denen Anderer

Marketing setzt gerne Impertinenz und Nachdruck ein, bis die Leute alles glauben. Man sollte den Willen zum Widerspruch dauernd im Hinterkopf aktiviert halten, wenn jemand weissmachen will, warum die Menschen auf sein neues Produkt fliegen werden.

Es folgt eine Liste von Argumente, die ich von Marketing-Experten in aller Ernsthaftigkeit hörte. Allen, die so argumentieren, sollte man nichts in die Hand drücken, was technisch komplizierter ist als ein Garagentoröffner.

"Bei diesm tollen Design - Warum sollten die Leute es nicht benutzen?"
Aus dem gleichen Grund, aus dem sie Lotus Notes nicht nutzen.
"Wir haben ein Jahr Vorsprung vor der Konkurrenz!"
Nein. Habt Ihr nicht.
"Bei diesem tollen Design - Warum sollten die Leute nicht bereit sein, sich mit Name und Passwort zu registrieren?"
Weil sie schon den Überblick über die 17 anderen achtstelligen, aus Buchstaben und Zahlen gemischten Passwörter verloren haben.
"Wir haben keine Konkurrenz!"
Dann habt Ihr keinen Markt.
"Bei diesem tollen Design - warum sollten sich die Leser nicht für den Dienst einschreiben?"
Weil sie den Dienst an der nächsten Netzecke gratis bekommen.
"Wenn Sie unser Produkt in Ihrer Organisation überall auf einmal einführen, dann brauchen sie keine Kompatibilität mehr mit ihren alten Programmen."
Stimmt. Das war auch das Prinzip, nach dem der Kommunismus hätte funktioniert haben sollen.

Regel Nr. 4: Information will billig sein

Die Information muss von ihrem Medium getrennt betrachtet werden. Auf immer und ewig. Zeitungsverleger müssen lernen, Nachrichten und Papier zu trennen. Auf CD Publizierende müssen sich zwischen Multi-Media-Produzenten und Herstellern von Plastik-Scheibchen entscheiden. So, wie der geschriebene Text die mündliche Überlieferung ersetzte, so ist die Trennung von Daten und Datenträgern unwiderruflich.

Die enormen Kosten der Archivierung und Verteilung von Informationen sind durch das Internet auf Null geschrumpft: Sobald ein WWW-Server am Netz hängt, sind die Kosten für das Bereitstellen von 10.000 Seiten nicht höher als die von 1.000 Seiten. Die Menschen im Netz merken dies - auch wenn sie es nicht so formulieren würden - und verhalten sich entsprechend.

Jeder, dessen Geschäftsplan darauf basiert, dass Leser bereit sind, für Informationen auf elektronischen Medien zu bezahlen, wie sie für CDs und Bücher bezahlen, wird scheitern. Viele WWW-basierte Dienste versuchten, die Leser für angebliche Knappheit bezahlen zu lassen, als würden sie das Abrufen von Informationen im Netz genauso vollziehen wie Druck, Verteilung, Lagerung, Bewerbung und Verkauf von physischen Objekten im richtigen Leben. Die Menschen bezahlen für Meinung, aktuelle Information, und die Druckerlaubnis von Gutachten. Sie bezahlen nicht für das simple Umschichten von Information aus anderen Quellen (das können sie inzwischen selber) oder für unsinnige Geschäftspraktiken, die auf künstlichen Kosten für die Aufbereitung beruhen.

Regel Nr. 5: Es geht um Wirtschaftlichkeit. Sonst nichts.

Die Zukunft des Netzes wird von der Wirtschaftlichkeit bestimmt - nicht die Wirtschaftlichkeit von Euro und Cent, sondern die Wirtschaftlichkeit (im Sinne von Effizienz), wie sie Millionen von Nutzern der Suche nach ihrem persönlichen Vorteil im Netz, verstehen.

Das Netz besteht nicht aus Technik. Die Technik ist nur das, was das Netz am Leben erhält. Das Netz selbst wird durch die Menschen gebildet, die es benutzen. Durch die Fähigkeit, Menschen zu verbinden, die die Entfernung trennt, aber der Horizont vereint, ist das Netz die wirksamste Methode, kollektives Vorgehen zu kanalisieren, die die Welt je gesehen hat.

Die Möglichkeit, von einem Moment zum anderen Gruppen zu bilden oder zu verändern, bietet eine fliessende Handhabung persönlicher Vorlieben: Individuelle Entscheidungen sind bedeutungslos, aber ihr kumulativer Effekt ist durch nichts und niemanden aufzuhalten. Wer auch immer versuchte, des Volkes Zugang zu Informationen unter seine Kontrolle zu bringen, musste dies schmerzhaft erfahren. Hier sind die Firma Prodigy, die serbische Regierung und Scientology vereint: Als sie meinten, einseitig Menschen bestimmte Informationen vorenthalten zu können, merkten sie, dass diese Kontrolle am Netz scheitert.

Ausschliesslich die Befriedigung persönlicher Vorlieben wird das Netz auf absehbare Zeit formen. Online-Dienste werden eingehen, solange sie nicht denselben Wert für die Menschen darstellen, den das Netz selbst darstellt. Telefonieren über das Netz wird sich trotz allem Widerstandes der Telefongesellschaften ausbreiten. "Groupware"-Programme müssen offene Standards übernehmen, wenn sie nicht aussterben wollen. Die Geschäftskonzepte im Netz werden sich daran orientieren müssen, was die Nutzer haben wollen, nicht daran, was die Marketing-Spezialisten verkaufen wollen.

Diese Regeln sind schon 9 Mal um die Welt gegangen. Unterbrich die Kette nicht! Wenn Du alle diese Regeln befolgst, bist Du in der Lage, alle Anfechtungen durch aufdringliche Werbetrommler abzuwehren, die jedes animierte Gezappel und jeden WWW-Schnickschnack als Sensation verkaufen wollen. Inzwischen kümmerst Du Dich darum, was die Leute wirklich haben wollen. Andererseits: Wenn Du diese Regeln nicht befolgst, werden Dich die Aktionäre zerlegen.

Anmerkung des Übersetzers:
Wie immer, wenn es um netztechnische Fragen geht, wird eine Übersetzung eine spannende Gratwanderung zwischen technischer Korrektheit und verständlichem Deutsch. Ich habe mich im Zweifelsfall dafür entschieden, die Stimmung des Originals zu erhalten. Clay Shirky möge mir verzeihen.
Rainer Kersten